Folge 8:
Die Staatswillkür von Halle
„68er“, das klingt erst einmal nach einer westlichen Bewegung. Junge Leute mit langen Haaren hören Beat-Musik und rebellieren gegen Autoritäten. Aber die 68er-Bewegung machte auch nicht vor der Mauer Halt. In der DDR beeinflusste sie wie im „Westen“ Lebensentwürfe. Etwa bei Lothar Rochau. Mit Mitte 20 arbeitet er 1977 für die Kirche in Halle-Neustadt, der Modellstadt des Sozialismus. Offen diskutiert er mit Heranwachsenden über Menschenrechte, lehrt ihnen kritisches Denken. Er möchte den Sozialismus verändern, ihn menschlicher machen. Das weckt schnell den Argwohn des Staates. Rochau wird beschattet, inhaftiert und psychisch gefoltert.
MZ-Volontär David Fuhrmann traf Lothar Rochau in dem Raum, in dem die DDR versuchte, ihn zu brechen – im Verhörzimmer der ehemaligen Haftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit, dem Roten Ochsen in Halle. Rochau hat sich noch einmal auf den Verhörstuhl von damals gesetzt und vom Unrecht gesprochen, das ihm widerfahren ist. Was ist, wenn der Staat nicht die Verbrechen aufklärt, sondern selbst der Täter ist?
Folge 8:
Die Staatswillkür von Halle
„Ein Staat, der auf seine Bürgerinnen und Bürger schießen lässt, sie einsperrt und foltert, kann kein Rechtsstaat sein. Lothar Rochaus Geschichte hat mich sehr bewegt. Es ist unbegreiflich, gegen wieviel haltlose Lügen und psychische Folter er ankämpfen musste.“
Autor der Folge:
David Fuhrmann,
Sportredaktion
Lothar Rochau,
ehemaliger Jugenddiakon und Inhaftierter im Roten Ochsen, der ehemaligen Stasi-Untersuchungshaft-anstalt in Halle
„Du warst Staatsfeind, du standest unter ständiger Bedrohung, es ging der Staatssicherheit darum, dich von der ersten Stunde an zu brechen, sie wollte dir klar machen: So wie du hier reinkommst, kommst du nicht wieder heraus.“
Der Staat als Täter
von David Fuhrmann
erschienen am 31.01.2023 in der MZ
Die Fingernägel der Gefangenen haben Spuren im Holz hinterlassen. Sie zogen Linien, gruben Kerben, kratzten Risse in die Oberfläche des Stuhls. Der Verhörstuhl ist robust. Er bricht nicht, kann stundenlang belastet werden. Jetzt sitzt Lothar Rochau, 70, auf dem Stuhl im Verhörzimmer des Roten Ochsen, der Justizvollzugsanstalt in Halle. Rochau hat blaugraue Augen und einen wachen Gesichtsausdruck. Er blickt durch das vergitterte Glas des einzigen Fensters.
Das Verhörzimmer ist ein schmaler Raum mit kastanienbraunem Linoleumboden und grüner Blumenornament-Tapete. Ein klobiger Tisch mit Schreibmaschine, zwei Aktenschränke und ein Lederstuhl bilden das Mobiliar im hinteren Teil des Raumes. Vorne ist der harte Verhörstuhl, ausgerichtet zum Fenster. Wer auf ihm saß, konnte die Freiheit sehen, die Welt jenseits der Mauern.
Lothar Rochau sitzt im Roten Ochsen auf dem Stuhl, auf dem er in stundenlangen Verhören gebrochen werden sollte.
(Foto: Andreas Stedtler)
Heute ist Rochau nicht mehr als inhaftierter Regimegegner in der Untersuchungshaftanstalt der DDR. Er ist ein freier Mann, der die Gedenkstätte im Roten Ochsen besucht. Auf zwei Etagen werden die Schicksale ehemaliger inhaftierter „Staatsfeinde“ der DDR nachgezeichnet. „Es ist ein gutes Gefühl, dass ich entscheiden kann, wann ich den Raum wieder verlassen kann“, sagt Rochau.
Vor knapp 40 Jahren, am 23. Juni 1983, war das anders. Es war ein sonniger Morgen, sechs Uhr, als Rochaus Freiheit endete. Es klopfte an der Tür seines Hauses. Rochau, seine Frau und sein Sohn schliefen noch. „Drei Männer standen vor meiner Tür, sie sagten, dass ich zur Klärung eines Sachverhaltes mitkommen soll“, erinnert sich Rochau, „ich antwortete, dass ich mir nicht vorstellen kann, was sie von mir wollen“. Drohten sie Gewalt an? „Sie sagten, sie könnten mich auch anders überzeugen.“ Verrieten sie, wie lange es dauern würde? „Ich sollte eine Zahnbürste einpacken.“
Beeinflusst von den 68ern
Wenn Rochau von seiner Geschichte erzählt, fixiert er seinen Gesprächspartner, blickt nicht weg, blinzelt fast nie. Er spricht in thüringischem Dialekt und wohlüberlegt. Er hat seine Geschichte oft erzählt, kennt alle Fragen, kennt alle Antworten.
Seine Geschichte beginnt in Weißensee, einer Kleinstadt in Thüringen, in der er 1952 zur Welt kam. Er wuchs in der Zeit der 68er-Bewegung auf. Junge Leute strebten soziale und kulturelle Veränderungen an, gingen dafür auf die Straße. Der liberale Zeitgeist hielt nicht vor der Mauer der DDR, er schwappte über und beeinflusste Lebensentwürfe. Etwa bei Rochau. Als er 16 Jahre alt war trug er lange Haare und diskutierte mit Freunden über Menschenrechte. Das passierte im Verborgenen, geschützt vor den Blicken der Staatssicherheit.
„Wir trafen uns heimlich in kleinen Dorfsälen, da sprachen wir über individuelle Freiheit statt über das reine Kollektiv, wie es uns in der Schule eingetrichtert wurde.“ Im selben Jahr walzten Panzer des Warschauer Pakts den Prager Frühling nieder. Rochau verstand das nicht, er zweifelte an dem Sozialismus sowjetischer Bauart. „Wie kann ein Bruderland in das andere einmarschieren?“, fragte er sich.
Mit 19 zog man Rochau zum Wehrdienst ein, schnitt ihm die Haare ab. Er habe unter dem Drill gelitten. Einziger Lichtblick sei sein Glaube gewesen, heimlich las er das Neue Testament. Mit 20 ist Rochau gequält vom eigenen Regime, doch geformt von den 68ern und seinem Glauben – und längst im Visier der Stasi.
Jugenddiakon in Halle
Rochau auf einer Informationstafel im Roten Ochsen
(Foto: Andreas Stedtler)
In der Gedenkstätte läuft Rochau durch den dick ummauerten Flur des Gebäudes. Auf einer Informationstafel ist er als junger Mann zu erkennen. Das Foto wurde von der Geheimpolizei geschossen. Es zeigt ihn 1980, wie er in Halle-Neustadt zu einer Gruppe junger Leute spricht. Die Umstehenden scheinen ihm gebannt zuzuhören. Rochau wirkt charismatisch, wie ein Anführer. Seine Haare trug er wild und lang. „Mähne“ war auch sein Pseudonym in den Akten der Stasi.
Rochau arbeitete in Halle-Neustadt ab 1977 als Jugenddiakon. Er betreute Jugendliche, bot ihnen Freiräume, regte sie zum Nachdenken an. „Wir haben sie gefragt: Wie und in was für einer Gesellschaft willst du leben?“ Rochau wollte den Sozialismus verändern, ihn menschlicher machen. „Es war doch unsere Gesellschaft, es war wichtig, die jungen Leute aufzuklären.“ Er organisierte eine Fahrraddemo für Umweltschutz. Er verfasste eine Schrift, in der er die Demilitarisierung der DDR forderte. Er stieß an Grenzen. Die Stasi infiltrierte seinen Arbeitgeber. „Ich wusste auf einmal nicht mehr, wem ich vertrauen kann“, sagt Rochau.
Auf Druck wurde er 1983 entlassen. Dann kam der Tag, an dem vor seiner Haustür die fremden Männer standen, die alles über sein Leben wussten. Sie wussten, dass Rochau einmal Archivar werden wollte. Sie wussten, an welcher Haustür er klingelte, um Freunde zu besuchen. Wie er glücklich war, als er mit 16 laue Sommerabende in Schrebergärten verbrachte, mit Kumpels Bier trank und herumwitzelte. Wen er anrief. Was er einkaufte. Wen er liebte.
Sie wussten, dass Rochau einmal Archivar werden wollte. Sie wussten, an welcher Haustür er klingelte, um Freunde zu besuchen. Wie er glücklich war, als er mit 16 laue Sommerabende in Schrebergärten verbrachte, mit Kumpels Bier trank und herumwitzelte. Wen er anrief. Was er einkaufte. Wen er liebte. Das alles wussten sie. In den Wochen vor der Verhaftung fühlte sich Rochau umzingelt, ständig unter Beobachtung, die Stasi war überall. „Es war fast eine Erleichterung, als sie mich mitnahmen und ich erfahren konnte, was sie mir vorwarfen.“
Im Verhör
Die Vorwürfe lauteten: Staatsfeindliche Hetze, Verbindungen zu westdeutschen Geheimdiensten, Aufwiegelung gegen die Gesellschaftsordnung der DDR. „Am ersten Tag im Roten Ochsen wurde ich von 7 Uhr morgens bis 23.30 Uhr vernommen“, sagt Rochau. Das Verhör übernahmen drei Stasi-Mitarbeiter der Abteilung IX. Eine Diensteinheit, die an der Stasi-Hochschule in Potsdam auf Vernehmungen spezialisiert wurde. Die Rochau brechen und zu einem Geständnis zwingen sollte, das tauglich für die Gerichtsverhandlung ist. „Sie drohten mir indirekt Gewalt an: Wir können auch anders. Sie wollen doch ihre Familie wiedersehen?“ Jedes Wort, das im Verhörzimmer fiel, wurde in größter Sorgfalt abgetippt.
Am ersten Tag betrat er um Mitternacht seine Zelle, drei mal vier Meter groß, bestückt mit zwei Betten und einem Klo. Das einzige Fenster ließ kaum Licht durch, es bestand aus Milchglas. Überrascht stellte er fest, dass er nicht allein in der Zelle war, er teilte sie mit einem Mann, der ein Transitvergehen begangen hatte und auf Rochau angesetzt war, ihn ausfragte und die Informationen an die Stasi weitergab. „Du warst wirklich nirgendwo sicher.“
In den sechs Monaten, die er insgesamt im Roten Ochsen verbrachte, begann Rochaus Haftalltag um 6 Uhr morgens, wenn der Wärter die Luke zur Zelle aufriss. „Sie schrien mich an: 56-2 aufstehen, Pritsche machen“, erinnert sich Rochau. Sie nahmen ihm die Persönlichkeit, „ich war eine Nummer“. Dann begannen die Verhöre. Zwei, drei Stunden am Stück. Eine Stunde Pause. Und weiter. In der Zelle brach er abends erschöpft zusammen.
„Wenn du hier drin warst, lebst du nicht mehr, du wirst gelebt, du öffnest selbst keine Türen mehr, du hörst nur noch Kommandos.“ In den Verhören konzentrierten sich die Stasi-Ermittler schnell auf seine Denkschrift zur Entmilitarisierung der DDR, Rochau verteidigte sie. „Ich war kein Staatsfeind, ich wollte doch nur, dass der Sozialismus sich wandelt“, sagt er. Seine Überzeugung wuchs, je härter sie an die Wände der Wirklichkeit stieß.
Seelische Narben
Im Dezember 1983 wird Rochau vom Bezirksgericht Halle in allen Anklagepunkten schuldig gesprochen, zu drei Jahren Haft verurteilt. Absitzen musste er die Strafe nicht. Als politischer Häftling kaufte ihn die Bundesrepublik Deutschland noch im Dezember 1983 frei. „Es war von Anfang an klar, dass sie mich zu einer langen Haftstrafe verurteilen wollten, um mich gegen einen hohen Betrag vom Westen freikaufen zu lassen.“
So leicht wie Rochau über das Erlebte spricht, könnte man denken, er sei einer, der das Unrecht besiegt hat. Der sich nicht beugen ließ. Der nach dem Mauerfall, als seine Peiniger die Stasi-Mäntel ablegten, sofort wieder nach Halle kam. Der mühelos wieder den Roten Ochsen betritt. Dass er der Held seiner eigenen Geschichte sei. Doch seine Geschichte hat Narben hinterlassen.
In der Gedenkstätte setzt sich Rochau noch einmal auf den Verhörstuhl, um ein Gedicht vorzutragen. Geschrieben von Jürgen Fuchs, seinem alten Freund. „Das Schlimme ist nicht, in einer Zelle zu sitzen und verhört zu werden. Erst danach, wenn du wieder vor einem Baum stehst, oder eine Flasche Bier trinkst und dich freuen willst. Richtig freuen. Wie vorher – erst dann.“