Verbrechen in
Mitteldeutschland

Ein Podcast der Mitteldeutschen Zeitung

Folge 9: Der rechte Mob von Köthen

Im September 2018 stirbt Markus B. nach einer Auseinandersetzung mit zwei Geflüchteten. Schon am nächsten Tag veröffentlicht die Polizei ein Gutachten, demzufolge der junge Mann nicht an den direkten Folgen der Gewalt, sondern an einem Herzinfarkt gestorben ist. Doch zu diesem Zeitpunkt ist es bereits zu spät. Das Netz ist voller Gerüchte und Falschinformationen. Bundesweit mobilisieren Neonazis zu Kundgebungen nach Köthen. Für die Bürgerinnen und Bürger der Stadt wird der Fall zur Bewährungsprobe. Wochenlang versuchen Rechtsextreme, den Toten zu instrumentalisieren.

MZ-Volontär Jakob Milzner hat sich mit dem Pfarrer Martin Olejnicki getroffen, der in Köthen damals Friedensgebete organisierte. Gemeinsam rekonstruieren sie die Ereignisse und sprechen darüber, wie sich eine Stadt gegen die Vereinnahmung von rechts zur Wehr setzte.

Folge 9:
Der rechte Mob von Köthen

„Die Bilder der Kundgebung nach dem Tod von Markus B. wirken auch heute noch furchteinflößend. Den Menschen, die sich damals zusammentaten und dem Hass der Rechtsextremen Botschaften des Friedens entgegenstellten, gebührt mein tiefer Respekt.
Der Fall ist ein Lehrstück darüber, wie dünn die Schicht unserer Zivilisation ist. Doch er stimmt zugleich auch hoffnungsvoll und zeigt, dass sich Gräben überwinden lassen, wenn es wirklich darauf ankommt.“

Autor der Folge:
Jakob Milzner,
Lokalredaktion Halle

Experte der Folge:
Martin Olejnicki,
Pfarrer im Landkreis Anhalt

„Auch, wenn man im Moment den Eindruck hat, dass die Gräben wieder sehr tief sind. Aber allein die Tatsache, dass man gesehen hat: Diese Gräben können, wenn es darauf ankommt, überwunden werden – das ist, glaube ich, ein ganz starkes Signal gewesen.“

Eine Stadt am Abgrund

von Jakob Milzner
erschienen am 07.02.2023 in der MZ

Nur wenige Orte können einen solchen Frieden ausstrahlen, wie es manche Spielplätze tun. Der Spielplatz am Karlsplatz in Köthen, in einem Wohngebiet im Osten der Stadt gelegen, ist ein solcher Ort.

Zwei Sandkästen mit Rutsche und Klettergerüsten befinden sich auf einer weitläufigen Wiese. Im Sommer sorgen große Laubbäume für Schatten. Die Eltern sitzen ein Stück abseits auf Holzbänken; ihre Gespräche verlieren sich in den Geräuschen der spielenden Kinder. Schlimmeres als ein aufgeschürftes Knie scheint kaum denkbar an einem solchen Ort.

Doch im Spätsommer 2018 bietet der Spielplatz am Karlsplatz die Kulisse für unheilvolle Szenen. Doch im Spätsommer 2018 bietet der Spielplatz am Karlsplatz die Kulisse für unheilvolle Szenen.

Martin Olejnicki vor der Jakobskirche in Köthen, in der er im September 2018 Friedensgebete organisierte.
(Foto: Andreas Stedtler)

Am Abend des 9. September endet hier eine als „Trauermarsch“ deklarierte Demonstration von rund 2.500 Menschen. Unter ihnen sind hunderte Neonazis. Bislang sind die Marschierenden weitgehend still durch die Straßen gezogen. Doch am Karlsplatz kippt die Stimmung. Rassistische Parolen branden unter begeistertem Johlen über die mit Menschen gefüllte Straßenkreuzung.

Der verbalen Gewalt ist am Vorabend eine Auseinandersetzung vorangegangen, an deren Ende ein sterbender Mensch dort liegt, wo keine 24 Stunden später rechtsextreme Redner wüten.
Martin Olejnicki ist damals Jugendpfarrer in Köthen. Am Morgen nach dem Todesfall ruft ihn Köthens Oberbürgermeister an. „Der sagte mir: ,Da ist etwas passiert, das wird schwierig‘“, erinnert er sich. Am Telefon berichtet ihm Oberbürgermeister Bernd Hauschild (heute parteilos, damals SPD), was geschehen ist.

Das Netz ist voll von Gerüchten

22 Jahre alt ist Markus B., als er in den Abendstunden des 8. September 2018 Zeuge eines Streits zwischen mehreren Geflüchteten wird. Warum er in eine Schlägerei mit den jungen Männern aus Afghanistan gerät, ist bis heute nicht ganz klar; möglicherweise versucht er, in deren Streit zu vermitteln. Wenig später ist er tot.
Es vergehen nur Stunden, bis Neonazis bundesweit zu Demos nach Köthen mobilisieren. Das Netz ist voll von Gerüchten und Falschinformationen. Deren Tenor: Flüchtlinge haben einen Deutschen getötet.

Zwar ist schnell klar, dass Markus B. nicht an direkter Gewalteinwirkung gestorben ist. Schon am nächsten Tag liegt das Ergebnis einer ersten Obduktion vor: Todesursache war dieser zufolge akutes Herzversagen. Es wird bekannt, dass der 22-Jährige an einer schweren Erkrankung des Herzens litt. Doch das ist nicht die Nachricht, die sich am Morgen des 9. September 2018 rasant in rechten Netzwerken verbreitet.

„Das war nicht die Information, die bestimmte Kräfte haben wollten“, versucht Martin Olejnicki zu erklären. Neben rechtsextremen Gruppierungen wie dem Dritten Weg seien auch Anhänger der AfD „ganz vorne im ,Trauermarsch‘ dabei“ gewesen. „Und die hatten alle kaum Interesse an der Wahrheit“, sagt er. Ausgereicht habe der Fakt, dass ein Mensch ums Leben gekommen war – unter Beteiligung von Menschen anderer Herkunft.

„Da machte es bei mir schon Klick“, sagt Olejnicki. „Da hatte man im Hinterkopf Chemnitz, das war ja nicht lange her.“ Der Pfarrer spielt auf einen Vorfall an, der sich zwei Wochen zuvor ereignet hatte. Am Rande des Chemnitzer Stadtfestes stirbt damals ein Deutscher infolge von Messerstichen, die ihm Geflüchtete beigebracht haben. Anschließend greifen Neonazis ausländisch aussehende Menschen, Polizisten und einfache Passanten an. Köthen, so scheint es, könnte nun Ähnliches bevorstehen. In den Wochen nach dem Tod von Markus B. kommt es immer wieder zu fremdenfeindlichen Demonstrationen.

Im Mai 2019 verurteilt das Landgericht zwei Afghanen zu Haftstrafen

Seitdem sind mehr als vier Jahre vergangen. Im Mai 2019 verurteilt das Landgericht Dessau-Roßlau zwei Afghanen wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu einem Jahr und fünf Monaten sowie zu einem Jahr und acht Monaten Freiheitsstrafe. Rechtlich ist der Fall damit abgeschlossen.

Und doch sind die Ereignisse auch heute noch bei vielen Menschen in Köthen präsent. Dabei ist die Stadt eigentlich für Anderes bekannt. Johann Sebastian Bach etwa, der einige Jahre als Kapellmeister in Köthen wirkte, was die Stadt zu einem Anziehungspunkt für Klassikfans macht, während der alte Bahnhof die Herzen von Eisenbahnliebhabern höher schlagen lässt. Köthen ist darüber hinaus eine Hochschulstadt mit vielen internationalen Studierenden.

Am 9. September 2018 trifft Martin Olejnicki gegen Mittag am Karlsplatz ein. Der Oberbürgermeister ist da, der Landrat hat angekündigt, einen Kranz niederzulegen. „Das war eine komische Stimmung auf dieser Kreuzung“, sagt der Geistliche. „Man kommt dahin, sieht einen Fleck auf der Straße und Kreidezeichnungen von der Polizei.“ Nach und nach kommen immer mehr Menschen, darunter auch Stadträte aus verschiedenen Fraktionen. Leute, die sich im politischen Tagesgeschäft in der Regel wenig schenken. Doch an diesem Tag sei es anders gewesen, erzählt Olejnicki. „Die reichten sich die Hand, und das war ganz klar die Botschaft: Hier müssen wir jetzt zusammenstehen. Das wird sonst nichts.“

Eine starke Gemeinschaft

Beim sogenannten „Trauermarsch“, der später am selben Tag stattfindet, läuft der Pfarrer nicht mit. Der Titel habe viele Menschen auf die Straße gelockt, vermutet er. Erst bei der Schlusskundgebung sei der Charakter dieses „Marschs“ wirklich deutlich geworden. „Viele glauben wohl heute noch, dass das ein Trauermarsch ohne böse Absicht war“, sagt er. „Die aber, die ganz vorne waren, die das erlebt haben, und auch Leute, die in der Gegend wohnen und gehört haben, was da durch die Mikrofone gesagt wurde, die waren wirklich erschrocken.“

Schon während des „Marschs“ skandieren Teilnehmer vereinzelt Sprüche wie „frei, sozial und national“. Doch am Karlsplatz fallen letzte Hemmungen. „Es ist ein Rassenkrieg gegen das deutsche Volk“, schreit ein Redner. „Ja“, brüllt jemand in der Menge, die mit Applaus und Pfiffen antwortet.

Für Olejnicki stellt sich damals die Frage: Wie geht man mit dieser Situation um? „Vor der Frage stand ich ja zum Glück nicht allein“, sagt der Pfarrer heute. Denn in Köthen existierten bereits Netzwerke, die 2015 entstanden waren, als tausende Menschen nach Deutschland flohen. Damals formierte sich ein Bündnis von Bürgern, Institutionen und Vereinen, die sich für die Schutzsuchenden einsetzten. Diese Netzwerke seien im September 2018 reaktiviert worden, erzählt Olejnicki, als klar wurde, dass Köthen vor der Gefahr stand, für unabsehbare Zeit zum Aufmarschplatz von Neonazis zu werden. „Alles stand unter derselben Prämisse“, sagt der Geistliche: „Wir wollen nicht etwas gegen jemanden machen. Wir müssen uns überlegen: Wofür stehen wir?“

Hunderte malten mit Kreide Friedensbotschaften auf den Marktplatz

Mit Kreide malten hunderte Menschen eine Kerze auf den Marktplatz, um so ein Zeichen für Frieden und Toleranz zu setzen. (Foto: Ute Nicklisch)

Martin Olejnicki organisiert damals Friedensgebete. „Das hat sehr schnell funktioniert, und es waren viele Leute in der Kirche“, blickt er zurück. „Ich glaube, weil so ein Ohnmachtsgefühl da war von: ,Ich kann gerade nichts machen, ich erlebe nur, dass es jeden Tag neue Aufrufe gibt und riesige Demos.‘“ Viele hätten Angst vor einem gewalttätigen rechten Mob gehabt. „Das waren ja auch berechtigte Befürchtungen“, sagt der Pfarrer. „Das brachte Leute dazu, zusammenzukommen, Kerzen anzuzünden, auf Musik zu hören.“

Bei Gebeten bleibt es nicht. Während eines Treffens im Rathaus, das der Oberbürgermeister initiiert hat, entsteht die Idee einer Aktion auf dem Marktplatz. „Ein Kunstmaler aus der Gemeinde hat eine große Friedenskerze gestaltet als zentrales Motiv“, erzählt Olejnicki. Es habe Schablonen und Kreidestücke gegeben, mit denen die Menschen Botschaften des Zusammenhalts auf das Pflaster malen konnten.

Er selbst ist bei der Malaktion am Nachmittag des 15. September 2018 nicht dabei, sondern liegt mit einem Hexenschuss im Bett. Doch viele hätten ihm davon berichtet, sagt er, „was für ein besonderer Moment das auf dem Marktplatz war, im Sonnenschein miteinander zu malen und sich die Hände mit Kreide schmutzig zu machen“.

Morddrohungen per Mail

Sein Engagement habe ihm damals E-Mails mit Morddrohungen eingebracht, berichtet Martin Olejnicki. Und doch verbinde er schöne Momente mit jener Zeit. „Auch, wenn man im Moment den Eindruck hat, dass die Gräben wieder sehr tief sind“, sagt er. „Aber allein die Tatsache, dass man gesehen hat: Diese Gräben können, wenn es darauf ankommt, überwunden werden – das ist, glaube ich, ein ganz starkes Signal gewesen.“