Folge 7: Die Täterjagd von Eisleben
Das Böse ängstigt und fasziniert Menschen gleichermaßen. Millionen Deutsche verfolgen regelmäßig die Serie Akten Zeichen XY. Und auch im Netz rätseln immer mehr Menschen mit und versuchen Verbrechen zu lösen. Wie gefährlich es aber sein kann, vermeintliche Informationen und Beobachtungen über eine Tat im Netz zu teilen, zeigt der Fall aus Eisleben. Nach einer Messerstecherei überschlagen sich die Kommentare in einer lokalen Facebook-Gruppe und die Suche nach dem flüchtigen Täter beginnt.
MZ-Volontärin Babett Gumbrecht hat mit der Medienpsychologin Dr. Johanna Börsting von der Hochschule Ruhr West über den Fall gesprochen. Sie klärt auf warum Menschen so gerne im Netz mit rätseln und welche Gefahren das birgt.
Folge 7:
Die Täterjagd von Eisleben
„Ich habe damals von dem Fall über Facebook erfahren und war geschockt über die Kommentare. Der Fall aus Eisleben zeigt, dass viele Menschen die Grenzen zwischen Offline und Online nicht kennen und respektieren. Ich habe den Fall für den Podcast ausgewählt, um aufzuklären. Falschinformationen, Mutmaßungen und Fotos über einen möglichen Täter im Netz zu posten geht zu weit.“
Autorin der Folge:
Babett Gumbrecht,
Lokalredaktion Eisleben
Expertin der Folge: Dr. Johanna Börsting, Medienpsychologin
„Das Problem der Unterscheidung von sensiblen und nicht sensiblen Informationen besteht generell in den sozialen Medien. Es passiert häufiger auf Online-Plattformen, dass man sensible Daten teilt, weil man einfachere Mechanismen hat als offline. Man kann online mit einem Klick Informationen verbreiten, ohne sich über mögliche Konsequenzen Gedanken zu machen. Dazu kommt, dass generell jeder Mensch ein individuelles Verständnis von Privatheit hat. Je nachdem wie das ausgeprägt ist, findet man das auch ok solche Fotos zu teilen oder nicht zu teilen.“
Täterjagd im Netz
erschienen am 23. Januar 2023 in der MZ
von Babett Gumbrecht
Ein blutiger Stofffetzen liegt noch auf dem Kopfsteinpflaster vor dem Fußabtreter des Vodafone-Ladens. Er ist jetzt ein Beweismittel und wird später von der Kriminalpolizei mit der gelben Tatortnummertafel zwei markiert werden. Die Frau, die vor wenigen Minuten hier niedergestochen wurde, kämpft in einem nahe gelegenen Krankenhaus ums Überleben. Der Täter flüchtet nach der Tat. Kann dieser gefasst werden? Wird das Opfer überleben? Und warum kam es am 9. Juni 2022 in der Halleschen Straße in Eisleben (Landkreis Mansfeld-Südharz) zu dieser Bluttat? Fragen wie diese lösen in den sozialen Netzwerken sofort heftige Diskussionen und Spekulationen aus.
„Mädels aufgepasst aus Eisleben. Hier läuft ein Schwarzer oder Afghane durch Eisleben und hat eben vor meiner Haustür eine Frau abgestochen!“, schreibt ein Augenzeuge in der privaten Facebook-Gruppe „Mansfelder Land“.
Warum Menschen so gerne im Netz miträtseln und welche Gefahren das birgt, hat Volontärin Babett Gumbrecht mit der Medienpsychologin Dr. Johanna Börsting besprochen.
(Foto: Andreas Stedtler)
Unter dem Kommentar reihen sich weitere Meinungsbeiträge. Auch ein Foto, das den Verdächtigen zeigt, wird gepostet. Während die Polizei nach dem flüchtigen Täter sucht, fragt sich die Facebook-Community weiter, was passiert ist. „Eine Asiatin wurde erstochen“, schreibt eine Userin unter dem Post. Am Plan, eine Straße in der Innenstadt Eislebens, sei komplett abgesperrt. Da sei neben der Shisha-Bar einer Friseurin viermal in den Bauch gestochen worden, kommentiert ein anderer Facebook-Nutzer. „Ich vermute Eifersucht“, heißt ein weiterer Kommentar aus der Gruppe Mansfelder Land – alles Vermutungen zu diesem Zeitpunkt.
Rekonstruktion der Tat
Die 1. Große Strafkammer am Landgericht Halle wird die Tat später rekonstruieren: Am 9. Juni 2022 sticht der 42-jährige Täter 15 Mal auf seine 31-jährige Ehefrau ein und verletzt sie lebensgefährlich. Er flüchtet danach vom Tatort in der Halleschen Straße, wird aber wenig später von der Polizei gefasst. Das genaue Motiv der Bluttat bleibt im Prozess offen. Das Paar, das aus Afghanistan stammt und drei Kinder hat, hatte lange im Iran gelebt und war dann über Griechenland mit Hilfe von Schleusern nach Deutschland gekommen. Hier trennt sich die Frau allerdings von ihrem Mann und zieht im März vergangenen Jahres mit den Kindern von Eisleben nach Sangerhausen, ebenfalls im Landkreis Mansfeld-Südharz gelegen. Ihr Ehemann habe sie regelmäßig geschlagen und bedroht, sagt die Frau – er bestreitet das. Der Angeklagte räumt im Prozess aber die Tat ein und bittet seine Frau um Entschuldigung.
Die MZ berichtete damals über den Fall. Der Tatort liegt rund 200 Meter von der Eisleber Redaktion entfernt, weshalb Fotograf und Reporter schnell vor Ort waren und mit Augenzeugen und Polizei sprechen konnten. Unter dem Titel „Nach Messerangriff in Eisleben: Opfer schwebt in akuter Lebensgefahr“ erschien der erste Artikel wenig später online. Bevor ein Text jedoch veröffentlicht werden kann, müssen Informationen verifiziert werden. Bis Staatsanwaltschaft oder Polizei sich zu den laufenden Ermittlungen äußern, dauert es in der Regel aber ein paar Stunden. Was User in Sekundenschnelle als Mutmaßung im Netz teilen, ist nicht mit journalistischer Recherche gleichzustellen.
Für Presseanfragen war damals die Staatsanwaltschaft in Halle zuständig. Behördenleiterin Heike Geyer sieht in Hinweisen auf sozialen Plattformen keine hilfreichen Maßnahmen: „Derartige Diskussionen können weder von der Polizei noch der Staatsanwaltschaft verfolgt werden“, so Geyer. Zudem seien sie überhaupt nicht hilfreich, unsachlich und selbst eine Straftat. Belangt werden könne man zum Beispiel wegen Verletzung des Urheberrechts, Verleumdung oder übler Nachrede, sagt Geyer. Beobachtete Verbrechen sollten also ausschließlich Polizei oder Staatsanwaltschaft gemeldet werden, mahnt die Oberstaatsanwältin an dieser Stelle. Auf offiziellen Kanälen wie dem Twitteraccount der Polizei Halle könnten zudem Informationen zu konkreten Fahndungsaufrufen sicher und zuverlässig nachgelesen werden.
Gefahr von Falschmeldungen
Wie gefährlich der Umgang mit Falschmeldungen sein kann, zeigt das Beispiel von der Schießerei im Olympia-Einkaufszentrum (OZE) in München 2016. Gegen 17 Uhr am Nachmittag forderte ein 18-Jähriger andere Facebook-Nutzer auf, in ein Fast-Food-Restaurant in das OZE zu kommen. Dort eröffnete er das Feuer. Der Täter versteckte sich nach der Tat und blieb zunächst flüchtig.
Innerhalb weniger Minuten verbreiteten sich Angst und Schrecken über die sozialen Netzwerke. Später betitelten Medien den Abend als Panik- oder Terrornacht. Das Problem: Beobachter vermuteten hinter dem Amoklauf einen Terroranschlag. Wegen der unklaren Situation und Gerüchten auf Social Media kam es an verschiedenen Orten in der Stadt zu Panik. Verteilt durch ganz München wollten Menschen Schüsse gehört haben und erzeugten so Phantomtatorte. Insgesamt erhielt die Polizei 71 Meldungen wegen vermeintlicher Schüsse. Erst spät in der Nacht wurde klar, dass es sich um einen Täter handelte und dass dieser bereits tot war.
Die Polizei versuchte, Entwarnung auf ihren Kanälen der sozialen Netzwerke zu geben und den zahlreichen Fehlinformationen entgegenzuwirken. Vergebens. Spät am Abend wurde es der Münchner Polizei schließlich zu bunt: „Mieses Spiel der Angst“, twitterte sie in ungewöhnlich scharfem Ton – und kündigte ein hartes Vorgehen gegen Falschmeldungen an: „Personen, die solche Gerüchte in die Welt setzen, dürfen sich schon mal warm anziehen. Die Ermittlungen laufen.“
Es sind die aufsehenerregende Fälle, bei denen das Echo lange nachhallt. Die Stimmung in Eisleben war damals angespannt. „Was ist bloß mit der Menschheit los?“, schrieb ein User unter dem Onlineartikel auf der Facebookseite der MZ Eisleben. Dabei machen laut der polizeilichen Kriminalstatistik 2021 der Polizeiinspektion Halle, zu dem der Landkreis Mansfeld-Südharz zählt, „Straftaten gegen das Leben“ nur einen geringen Anteil an der Gesamtkriminalität (0,04 Prozent) aus. Im Jahr 2021 wurden insgesamt 27 Fälle erfasst. Das sei im Vergleich zum Vorjahr ein Rückgang um 16 Fälle. Trotzdem wird in den sozialen Netzwerken schnell ein Zusammenhang zwischen Flüchtlingswelle und Kriminalität gesehen. „Vor fünf Jahren war sowas noch nicht an der Tagesordnung?“, äußerte sich ein User.
Viele ungeahndete Straftaten
Die Frage nach der Nationalität des Täters beschäftigte auch im Fall aus Eisleben die Facebook-Gruppe Mansfelder Land. „Kein Wunder, was alles reinkommt“, oder „Weg mit dem Täter ins Gefängnis und dann abschieben in sein Land“, hieß es da. Nach der Messerattacke wurde sogar ein Foto des flüchtigen Verdächtigen gepostet. Dieses hatte die NPD Brandenburg unter dem Titel „Messer-Migrant sticht Frau nieder“ geteilt. „Die Anonymität gibt Menschen Sicherheit“, weiß Medienanwältin Julia Hartwig. „Dabei gelten sowohl online als offline dieselben Gesetze“, so die Anwältin. „Wenn ich zum Beispiel fotografiert werde ohne Einwilligung und das hochgeladen wird, dann ist das schlichtweg ein Verstoß gegen das Bild- und Urheberrecht“, so Hartwig. Das könne man alles anzeigen. Straftaten, die online begangen werden, seien sogar noch einfacher zu belegen und zu verfolgen, weil viele User sogar mit ihrem Klarnamen schreiben, so die Anwältin aus Magdeburg.
Werde das Bild zudem in einen falschen Kontext gestellt, komme eine Strafbarkeit wegen übler Nachrede oder Verleumdung in Betracht, so Geyer. Diese Delikte seien sogenannte Antragsdelikte, erklärt Medienanwältin Hartwig. „Das heißt, das Opfer muss selber tätig werden und Anzeige erstatten. Es gibt keine Verpflichtungen für Plattformen wie Facebook.“ Viele Straftaten blieben deswegen im Netz ungeahndet, so Hartwig.
Fast acht Jahre Haft
Unter den über 100 Kommentaren zum Post der Messerattacke fanden sich aber auch positive Wortmeldungen. „Ich hoffe, der Frau geht es den Umständen entsprechend, und wünsche ihr gute Besserung“ oder „Bevor wir spekulieren, wer der Täter war, sollten wir doch erstmal hoffen, dass die Frau die Tat überlebt“, schrieben zwei User. Durch eine mehrstündige Notoperation überlebte das 31-jährige Opfer die Tat. Ihr Ehemann habe an das Tatgeschehen aber keine Erinnerung, wie er später im Prozess aussagt. Das Landgericht Halle verurteilte den Täter schließlich wegen versuchten Mordes zu sieben Jahren und zehn Monaten Freiheitsstrafe.