Folge 2: Der Kindersex-Ring von Quedlinburg
Dass eine Mutter ihr Kind für Sex an Männer verkauft, ist eine unvorstellbare Tat. Im Harz ist das 2010 passiert. Damals bietet eine Quedlinburgerin ihre zehnjährige Tochter und ihre 15 Jahre alte Schwester Männern aus ganz Deutschland für Sex an und kassiert Hunderte Euro.
MZ-Volontärin Almut Hartung hat mit Ingo Kugenbuch, der als Reporter den Prozess dazu begleitet hat, darüber gesprochen. Wie er die Angeklagten erlebt hat, was sie zu ihren Tat trieb und wie man als Journalist professionell über Kindesmissbrauch berichtet, erfahrt ihr in dieser Folge.
Folge 2:
Der Kindersex-Ring von Quedlinburg
„Ich bin über meinen Kollegen Ingo Kugenbuch auf diesen Fall gestoßen. Was mich besonders interessiert hat, war die Frage, was das mit der Beziehung zwischen Mutter und ihrem Kind gemacht hat. Darum habe ich mit einer Psychologin darüber gesprochen. Außerdem wollte ich von Ingo erfahren, wie er die Prozesse und die Täter erlebt hat. Im Podcast habe ich mit ihm auch darüber gesprochen, was die Berichterstattung bei Verbrechen mit Kindern so schwierig macht und wie es ihm persönlich dabei ging.“
Autorin der Folge:
Almut Hartung,
Lokalredaktion Quedlinburg
Experte der Folge:
Ingo Kugenbuch,
Reporter, begleitete den Fall für die Mitteldeutsche Zeitung
„Wir vermeiden es, dass wir zu sehr in die private Sphären dieser Familien hinein zu recherchieren – einfach um die Kinder zu schützen. Wir hatten nach der Verhaftung der Mutter einige Informationen über ihren Facebook-Account. Da hätte man schon etwas drüber schreiben können. […] Aber am Ende war immer das Problem: Je mehr wir schreiben, desto mehr wird dieses Mädchen wiedererkennbar. Deswegen haben wir auch in den späteren Artikeln nichts mehr darüber berichtet, wo das Mädchen ist und was sie macht. Das hatten wir auch mit ihrer Anwältin abgesprochen.“
Wenn Frauen missbrauchen
erschienen am 13. Dezember 2022 in der MZ
von Almut Hartung
Die Frau geht auf ein wartendes Auto zu. Sie ist Anfang 30, bei ihr ist ihre zehnjährige Tochter. Das Mädchen freut sich, denn es darf an einem Fotoshooting teilnehmen. Was in diesem Moment in der Quedlinburger Mutter vorgeht, ist nicht bekannt. Sicher ist jedoch: Das, was als nächstes passiert, geschieht mit ihrer Zustimmung. Der Mann, der im Oktober 2010 in Quedlinburg in seinem grauen Honda auf sie wartet, ist Heinz-Dieter D., ein über 60 Jahre alter Mann aus Bremerhaven. Sie haben sich telefonisch verabredet und einen Preis vereinbart: 800 Euro bekommt die Mutter. Im Gegenzug darf Heinz-Dieter D. ihre Tochter in den kommenden Stunden missbrauchen. Als er Jahre später vor Gericht steht, lässt der stämmige Mann über seinen Anwalt verlauten, das Treffen sei die Idee der Frau gewesen.
So könnte es passiert sein: Auf einem Waldweg übergab die Quedlinburger Mutter im Mai 2011 ihr Kind und ihre eigene Schwester an Heinz-Dieter D.. (Foto: Andreas Stedtler)
Es wird nicht das einzige bleiben. Die Quedlinburgerin überlässt ihre Tochter auch anderen Männern in ganz Deutschland und baut einen Kindersexring auf, in dem auch eine weitere, noch jüngere Tochter sowie ihre eigene minderjährige Schwester zum Opfer sexualisierter Gewalt werden. Erst 2015 muss sie sich wegen schwerem sexuellen Missbrauch und Beihilfe vor Gericht verantworten.
Von dem, was ihr bevorsteht, ahnt die Zehnjährige nichts, als sie 2010 in den grauen Honda steigt. Sie weiß auch nicht, dass Heinz-Dieter D. für den Missbrauch eines fünfjährigen Mädchens schon einmal hinter Gittern saß. Über vier Jahre später erzählt sie in einer Befragung: „Ich habe mich gefreut.“ Denn kurz zuvor, auf der Geburtstagsfeier einer Bekannten, hatte ihre Mutter sie gefragt, ob sie mit „Dieter“ mitfahren wolle, um Fotos zu machen. „Ich habe gedacht, das werden Model-Fotos. Aber schon unterwegs hat er gesagt, dass ich nackig sein muss.“ Heinz-Dieter D. fährt mit ihr nach Wernigerode, ins Wohngebiet Burgbreite. Dort stellt ihm ein Mann seine Wohnung zur Verfügung. Später wird der Wernigeröder behaupten, nicht gewusst zu haben, was dort passiert ist.
Heinz-Dieter D. fordert die Zehnjährige auf, sich auszuziehen und sich auf ein Bett zu legen. Etwa zwei Stunden lang macht er Fotos von ihr. Dann, erzählt sie, berührt er sie „am ganzen Körper“, auch im Genitalbereich. Es ist die erste von fünf Taten, die ihm nachgewiesen werden können.
In Sachsen-Anhalt sind nach Angaben der Bundesbeauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs im vergangenen Jahr 569 Kinder missbraucht worden. Die Täter stammen häufig aus dem nahen Umwelt – dem Familien- oder Freundeskreis. In etwa 90 Prozent der Fälle sind es Männer. Dass auch Mütter ihre Kinder missbrauchen oder Missbrauch dulden, sei tabuisiert und kaum erforscht, sagt Marie-Theres Wollschläger. Die Pädagogin berät Opfer von sexualisierter Gewalt beim Verein Wildwasser in Halle. „Es gibt die Annahme von der Mutter als der Fürsorglichen, die ihre Kinder beschützt.“ Dadurch werde oftmals außer Acht gelassen, dass auch sie Kindern Gewalt antun könne. Die Beziehung zwischen einer Mutter und ihrem Kind werde durch Taten wie die der Quedlinburgerin schwer gestört. „Die Mutterfigur ist die direkte Vertrauensperson und das erschüttert Betroffene oftmals sehr in ihrem Grundvertrauen.“ Die Folge: Viele hätten im späteren Leben Vertrauensprobleme und große Ängste.
Anfang Mai 2011 bringt die Quedlinburgerin ihre Tochter erneut zu Heinz-Dieter D. Sie treffen sich auf einem Waldweg bei Quedlinburg. Die Frau hat ein weiteres Mädchen mitgebracht: ihre eigene, 15-jährige Schwester. Und auch Heinz-Dieter D. ist nicht allein. Bei ihm ist Thomas W., ein Anfang-30-Jähriger aus Oschatz in Sachsen. Vor Gericht wird der Sammler von Kinderpornografie über die Mädchen sagen: „Sie haben gewusst, was von ihnen erwartet wird.“ Nämlich, dass sie für Fotos und Videos posieren und die Männer befriedigen müssen. Die Mutter habe sie vorbereitet.
Für dieses Treffen erhält die Quedlinburgerin nach Angaben der Männer 1.100 Euro. Laut Staatsanwaltschaft wollte die Frau, die als Aushilfe arbeitete, damit ihren Lebensunterhalt sichern. Für Marie-Theres Wollschläger ist das eine Ausrede. „Oft rechtfertigen die Täter ihre Handlungen, sie übernehmen dafür keine Verantwortung.“
Viele Betroffene schweigen
Im Gegenzug für ihre Dienste bekommen die Mädchen Belohnungen von der Frau und Heinz-Dieter D. – mal ein kleines Taschengeld, mal einen Besuch im Kino oder ein Smartphone. Solche Geschenke, erklärt Expertin Wollschläger, setzten Täter ein, um das Gefühl von Mitschuld auszulösen. „Sie verfolgen bestimmte Strategien und das geschieht oftmals durch Manipulation.“ Zum Beispiel, indem sie sagen: „Du hast das Handy doch angenommen.“ Daher schwiegen viele Betroffene. Das Bundeskriminalamt geht daher davon aus, dass die Dunkelziffer bei Kindesmissbrauch höher ist als die offiziellen Zahlen.
Ob das Mädchen aus Quedlinburg in all der Zeit versucht hat, Hilfe zu bekommen, ist nicht bekannt. Selbst wenn nicht, sei das nicht ungewöhnlich, sagt die Beraterin. „Für Kinder ist das, was sie umgibt, die Normalität.“ Oftmals spürten sie, dass ihnen Unrecht angetan werde und sie seien dann im Zwiespalt. Denn gerade den Wunsch nach Liebe und Zuneigung würden die Täter ausnutzen, um sich das Schweigen ihrer Opfer zu sichern, erklärt Wollschläger. Zum Beispiel mit Sätzen wie: „Wenn du etwas sagst, müssen deine Geschwister ins Heim.“
Die Expertin berät auch Erwachsene dazu, wie sie sich verhalten sollten, wenn sich ihnen ein Betroffener anvertraut. Sie rät: „Man muss die Person ernst nehmen und sagen, dass sie keine Schuld hat, dass es Unrecht ist, was da passiert.“ Gleichzeitig sollte man das Verhalten der übergriffigen Person klar benennen. Die Täter offen zu kritisieren, sei hingegen nicht ratsam – das würde nur den inneren Konflikt der Betroffenen fördern.
Zwischen den Treffen mit Heinz-Dieter D. vergehen oft Monate. In den Sommerferien 2012 schickt die Quedlinburgerin ihre Tochter und deren sieben Jahre alte Schwester zu ihm nach Bremerhaven. Zwei Tage müssen die Schwestern hier mit ihm und einem weiteren Mann verbringen. berichtet ihre Schwester später. Während die nun Zwölfjährige die beiden Männer befriedigen muss, schaltet sich Stefan R., ein Notfallchirurg aus Bayern per Skype dazu, um ihnen während seines Bereitschaftsdienstes dabei zuzusehen. Zwei Jahre später, im Januar 2014, fährt er selbst zweimal nach Wernigerode, um sich an der Schülerin zu vergehen
Etwa zur selben Zeit fliegt der Pädophilen-Ring auf. Die Polizei kommt der Gruppe auf die Spur, weil der Sachse Thomas W. 106 Bilder und Videos mit Kinderpornografie auf seinem Computer gespeichert hatte. Bei einer Befragung gibt er die Namen der anderen Beteiligten Preis. Nachdem Thomas W. und Heinz-Dieter D. bereits im Herbst verhaftet werden, nimmt die Polizei einen Tag vor Weihnachten schließlich auch die Mutter fest. Da hatte das Jugendamt ihr bereits ihre Töchter weggenommen. Wie sich später herausstellt, war die Familie der Behörde bekannt. Eingeschritten ist diese jedoch erst am 20. November 2014. Die Mädchen werden in Obhut genommen, die inzwischen 14-Jährige wird in einem Kinderheim untergebracht.
Mädchen wirkte selbstbewusst
Was die Mutter zu ihren Taten sagt, darüber erfährt die Öffentlichkeit nichts. Zum Schutz ihrer Tochter findet der Prozess gegen die zu diesem Zeitpunkt 35-Jährige hinter verschlossenen Türen statt. Zu vier Jahren und neun Monaten Haft wird sie schließlich verurteilt.
Im April 2015 tritt ihre Tochter Heinz-Dieter D. und Thomas W. ein letztes Mal gegenüber – um vor Gericht gegen sie auszusagen. Als gefasst und selbstbewusst beschreibt sie ein Prozessbeobachter. Mit ihrer Aussage bewirkt sie, dass Heinz-Dieter D. zu elf Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung und Thomas W. zu fünf Jahren Haft verurteilt werden. Der bayerische Arzt muss zwei Jahre und sieben Monate hinter Gitter.
Die Quedlinburger Mutter ist heute wieder auf freiem Fuß. Ob sie ihre Tochter in der Zwischenzeit noch einmal getroffen hat, ist nicht bekannt. Für die Opfer – für ihre Heilung und die Aufarbeitung des Erlebten– sei ein klarer Schnitt wichtig, sagt Marie-Theres Wollschläger. Denn erst wenn der Kontakt abgebrochen werde, könne der Heilungsprozess beginnen.