Verbrechen in
Mitteldeutschland

Ein Podcast der Mitteldeutschen Zeitung

Folge 3: Die Schreckensfahrt von Mehringen

Ein psychisch kranker Mann versucht, mit einem Radlader seinen Stiefvater anzugreifen und richtet in seinem Heimatort Mehringen im Salzlandkreis großen Schaden an.Seine Mutter hatte bereits zuvor gewarnt, dass ihr Sohn gefährlich sei. Sie hatte sogar einen Brief an das örtliche Betreuungsgericht geschrieben und darum gebeten, ihn in eine psychiatrische Klinik einzuweisen. Vergebens.

MZ-Volontärin Anja Riske geht mit dem psychiatrischen Gutachter Dr. Stephan Pecher der Frage nach: Hätte die Tat des damals 38-Jährigen verhindert werden können?

Folge 3:
Die Schreckensfahrt von Mehringen

„Oft sehen und hören wir Berichte über Straftaten und fragen uns: Hat zuvor wirklich niemand gemerkt, dass von diesem Menschen eine Gefahr ausgeht? Muss immer erst etwas passieren?
Im diesem Fall hatte die Mutter des Täters durchaus Bedenken und hat diese auch geäußert. Damit stieß sie jedoch auf verschlossene Türen. Das hat auf mich, als außenstehende Person, unverständlich gewirkt. Wie können die Sorgen von Angehörigen anscheinend so wenig Beachtung finden? Im Gespräch mit verschiedenen Experten habe ich versucht, auf diese Frage eine Antwort zu finden und zu erfahren, wie wir hierzulande im Bereich der Justiz mit psychisch kranken Menschen umgehen.“

Autorin der Folge:
Anja Riske,
Lokalredaktion Aschersleben

Experte der Folge:
Dr. Stephan Pecher, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie am Diakoniekrankenhaus in Elbingerode,
psychiatrischer Gutachter

„In aller Regel ist es so, dass in vielen Fällen dann, wenn jemand sich in Behandlung begeben muss – zwangsweise –, sich aber nicht als krank erlebt und die Medikation ablehnt, ein neuer Antrag gestellt werden muss. Also zunächst kann keine Behandlung erfolgen […]. Das ist gleichbedeutend damit, dass man sagen würde, jemand mit einem Herzinfarkt würde keine Medikamente bekommen; jemand mit einer Zuckerentgleisung bei Diabetes würde nicht eine Korrektur erhalten. Das ist also ein großes Drama.“

Der Feind im eigenen Kopf

erschienen am 20. Dezember 2022 in der MZ
von Anja Riske

Was dem 38-jährigen Mann aus Mehringen im Salzlandkreis an jenem Tag im Mai 2021 durch den Kopf geht, kann der gesunde Verstand nur schwer nachvollziehen. Fest steht: Er setzt sich auf einen Radlader. Er schiebt damit ein Auto, in dem seine Mutter und ihre Enkel sitzen, auf eine Straße. Er versucht, seinen Stiefvater zu attackieren. Und er richtet in seinem Heimatort großen Schaden an, zerdrückt Autos, fährt einen Strommast um, zerlegt eine Garage regelrecht.

Fest steht auch: Der Mann ist psychisch krank. Bereits 2003 hat er die Diagnose Schizophrenie erhalten. „Wahrscheinlich die schwerste psychische Erkrankung“, meint Dr. Stephan Pecher.

Was genau ist in dem kleinen Ort Mehringen passiert? Und wie konnte es dazu kommen? Autorin Anja Riske musste viele Informationen sichten und ordnen.
(Fotomontage: Andreas Stedtler)

Er ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie am Diakoniekrankenhaus in Elbingerode (Harz), arbeitet zudem als psychiatrischer Gutachter. So auch im Prozess um den Fall von Mehringen.

Halluzinationen und Stimmen

Wer an Schizophrenie erkranke, schildert Pecher, bei dem verändere sich die Wahrnehmung gravierend. Das könne genetische Ursachen haben, aber auch durch äußere Umstände wie Stress oder Drogenkonsum begünstigt werden. Betroffene leiden unter Halluzinationen und hören häufig Stimmen, die beleidigend, bedrohlich oder auffordernd sein können, erklärt der Experte. Zudem hätten sie oft das Gefühl, andere Menschen könnten ihre Gedanken mithören, und sie bezögen viele Dinge auf sich, die mit ihnen nichts zu tun haben: Auf der Straße seien sie beispielsweise der Meinung, „dass die Fahrzeuge wegen ihnen dort langfahren, wegen ihnen dort blinken“. Das alles mache die Erkrankten misstrauisch, aggressiv und feindselig.

Feindselig war auch der Täter aus Mehringen schon vor seiner Fahrt mit dem Radlader. Aber: „Er ist nicht immer so gewesen“, sagt ein Bekannter, sein ehemaliger Fußballtrainer. Er habe ihn schon als Kind gekannt. Ein guter Spieler sei er gewesen, erinnert sich der Mann aus dem Nachbarort Drohndorf. Das Training habe er höchstens im Sommer mal sausen lassen, um mit seinem Stiefvater Traktor zu fahren. „Dann ist er nach Bayern runter gezogen“ – für die Ausbildung – und dort womöglich mit Drogen in Kontakt gekommen, vermutet der Mann. „Er kam total verändert zurück.“

Der Mehringer hat Mutter und Stiefvater beschimpft und bedroht.  „Du stirbst“, schrieb er letzterem laut MZ-Bericht zum Prozess vor seiner Tat. Anscheinend gab er ihm die Schuld am Verlust von Geld und Wohnung. Seine Mutter hatte wegen seines Verhaltens schon einige Zeit zuvor einen Brief an das Betreuungsgericht geschrieben und gebeten, ihren Sohn in einer psychiatrischen Klinik unterzubringen. Vergebens. Hätte die Tat verhindert werden können, wenn die Zuständigen die Bedenken der Familie ernstgenommen, den Mann zügig hinter verschlossene Türen gebracht hätten?

Unterschiedliche Grundlagen

„Die Freiheit des Menschen ist ein hohes Gut“, sagt Dr. Kristin Kliemannel, Dozentin für Strafrecht an der Fachhochschule der Polizei Sachsen-Anhalt. Das finde in den Gesetzen Beachtung. Diese ermöglichten eine Zwangseinweisung nur in Ausnahmesituationen, in denen jemand entweder eine Gefahr für sich oder für andere darstellt.

Wenn ein Mensch aufgrund einer Behinderung oder psychischen Krankheit seine Angelegenheiten nicht selbst regeln kann, heißt es etwa im Betreuungsrecht nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch sinngemäß, bestellt das Betreuungsgericht auf Antrag oder von Amts wegen einen Betreuer. „Es geht da um eine Betreuung im Sinne einer rechtlichen Vertretung“, sagt Dirk Pauling vom Betreuungsverein e.V. in Staßfurt und Aschersleben (Salzlandkreis). „Verträge abschließen, Gesundheitssorge, Anträge stellen bei Ämtern – da unterstützen wir Betroffene.“ Diese Arbeit könne derzeit grundsätzlich jeder ausüben, ohne besondere Ausbildung.  Wer beruflicher Betreuer werden will, müsse ab 2023 jedoch seine fachlichen Kenntnisse nachweisen. Alternativ bleibe das Ehrenamt.

Wenn nötig, erklärt Kristin Kliemannel, könne der Betreuer einen Antrag stellen, um einen Klienten auf richterlichen Beschluss in eine Klinik einweisen zu lassen – eine zivilrechtliche Unterbringung. „Die Eltern können das nicht machen“ – sofern sie nicht selbst Betreuer sind. Bedingung für die Unterbringung sei, dass die Person eine Gefahr für sich selbst darstellt. „Da reicht es nicht, behandlungsbedürftig zu sein“, betont die Strafrechtlerin. Vielmehr müsse ein Patient mit Suizid drohen oder sich selbst verletzen.

Auch der 38-jährige Mehringer hatte einen gesetzlichen Betreuer. Der hatte aber offenbar keine Gefahr durch den Täter gesehen – weder für ihn selbst, noch für andere, wie er später im Prozess zu Protokoll gab. Er hatte deshalb vor der Tat beim Betreuungsgericht keinen Antrag auf Unterbringung gestellt.

An jenem Tag im Mai 2021 klopft der spätere Täter bei seinem ehemaligen Trainer ans Fenster. Da habe er gerade gearbeitet, erinnert der sich noch heute. Sein Bekannter fragt ihn, ob er bei ihm duschen, etwas essen, trinken, eine rauchen könne. „Ich habe ein bisschen Nudeln mit Gulasch gekocht“, sagt der Drohndorfer, und gibt ihm einen Teller davon, außerdem eine Zigarette. Nach einiger Zeit verschwindet der Mann, sein einstiger Trainer macht sich wieder an die Arbeit. „Auf einmal scheppert das!“, erzählt er. Da hat der Mehringer schon auf dem Radlader Platz genommen und das Auto seiner Mutter auf die Straße geschoben. Kurz darauf fährt er in Richtung seines Heimatortes.

Zu hohe Hürden?

Neben dem Betreuungsrecht gibt es das Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen für Personen mit einer psychischen Erkrankung, kurz: PsychKG. Ein Landesgesetz, erklärt Kristin Kliemannel. Anders als das Betreuungsrecht, nimmt das PsychKG auch ins Visier, ob jemand eine Gefahr für seine Mitmenschen darstellt. Die daraus folgende öffentlich-rechtliche Unterbringung sei eine „Sofortreaktion“, wenn eine „gegenwärtige, erhebliche Gefahr“ besteht, dass jemand sich oder andere verletzt.  „Der Schaden ist schon eingetreten oder steht unmittelbar bevor.“ Auch hier ist im Vorfeld ein Antrag beim Betreuungsgericht notwendig. Den stelle jedoch der sozialpsychiatrische Dienst des jeweiligen Landkreises.

Gibt das Gericht einem Antrag statt, gilt jedoch: „Die Unterbringung ist nur die Unterbringung“, erklärt die Strafrechtsexpertin. Die Mitarbeit bei der Therapie bleibe Entscheidung des Patienten. Für Zwangsbehandlungen sei eine separate Einwilligung des Gerichts nötig.

Hohe Anforderungen für eine Unterbringung, getrennte Anträge für Aufenthalt und Behandlung: Sind die Hürden für eine Therapie in solchen Fällen zu hoch? „Diese Hürde verkennt zumindest, dass die an Psychose, Schizophrenie oder Wahn erkrankten Menschen nicht verstehen können, dass sie krank sind“ – da sie zuvor auf ihren Verstand vertrauen konnten, erklärt Psychiater Stephan Pecher.

Die Betroffenen litten sehr unter ihrer Krankheit. Eine fehlende Therapie führe zu sozialen Problemen und nachlassender Leistung. Bleibe ein Patient, etwa mit Schizophrenie, unbehandelt, sei das gleichbedeutend damit, dass „jemand mit Herzinfarkt keine Medikamente bekommt“. Strafrechtlerin Kliemannel verweist hingegen auf das Grundgesetz, dass die Freiheit des Menschen in Artikel 2 verankert. „Wenn es zu einfach wäre, jemanden in einer geschlossenen Einrichtung unterzubringen, würde das die Gefahr in sich tragen, dass man Personen einfach wegsperrt.“ Der Freiheitsentzug solle für Extremfälle vorbehalten bleiben.

Davon kann man in Mehringen wohl sprechen. Dennoch hätte die Tat – mit Blick auf das geltende Recht – schwer verhindert werden können. Angehörige können die Unterbringung in einer Klinik  nicht erwirken. Und der Betreuer mag mit seiner Einschätzung, der Mehringer sei ungefährlich, falsch gelegen haben. Doch auch er hätte nur dann einen entsprechenden Antrag bei Gericht stellen können, wenn der Mann sich selbst in große Gefahr gebracht hätte, nicht aber wegen Drohnachrichten an die Eltern. Lediglich das PsychKG hätte die Möglichkeit geboten, darauf kurzfristig zu reagieren.

Der Fall geht trotzdem relativ glimpflich aus. Menschen kommen nicht zu Schaden. Seinem ehemaligen Trainer gelingt es durch Aufforderungen, den Fahrer zu stoppen. Der wird von einem  Gericht im November 2021 zu dauerhaftem Maßregelvollzug, also zur Unterbringung in einem psychiatrischen Landeskrankenhaus, verurteilt. Die genaue Dauer, so wird der Richter von der MZ zitiert, hänge von der Mitarbeit des Täters bei der Therapie ab.