Verbrechen in
Mitteldeutschland

Ein Podcast der Mitteldeutschen Zeitung

Folge 1: Der Dessauer Kellermord

Sie waren in einem ähnlichen Alter, besuchten beide denselben Jugendklub und waren zudem Nachbarn. Trotz der Gemeinsamkeiten beging ein Fahrraddieb am 28. Mai 2005 einen Mord, um sich den Konsequenzen einer Bagatelle zu entziehen.

MZ-Volontär Benjamin Telm spricht mit Kimberly Erlebach, Doktorandin an der juristischen Fakultät darüber, wie es dazu kommen konnte und ob die Gelegenheit Mörder schafft.
Antworten auf diese Fragen findet ihr in der ersten Podcastfolge.

Folge 1:
Der Dessauer Kellermord

„Während die berühmtesten Fälle Dessaus, der Mord an Li Yangjie oder der mysteriöse Fall von Oury Jalloh, große Schlagzeilen machten, ging der hier behandelte Fall fast unter – zu Unrecht wie ich finde. Zwar eröffnet der Dessauer Kellermord keine politische Dimension, aber dennoch wirft dieser viele Fragen auf und veranschaulicht, wie leicht relativ banale Situationen eskalieren können. Die Unverhältnismäßigkeit einen Mord zu begehen, um eine selbst eingebrockte Dummheit, die ja nicht einmal stattgefunden hat, zu verdecken, macht dabei den Fall besonders schwer verdaulich. Gleichzeitig, aber auch genauso interessant.“

Autor der Folge:
Benjamin Telm,
Lokalredaktion Dessau

Expertin der Folge:
Kimberly Erlebach, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der juristischen Fakultät für Strafrecht an der MLU Halle-Wittenberg

„Am wichtigsten ist die Sozialisation. Wie ist ein Mensch aufgewachsen? Hat der Mensch in seiner frühen Kindheit Gewalterfahrungen gemacht? Wurde er missbraucht? Wurde er vernachlässigt? Hat er gelernt, dass Gewalt eine adäquate Verhaltensweise ist, um Konflikte zu lösen oder zu begegnen? Das sind Faktoren, die es dann wahrscheinlicher machen, dass jemand später eher zu Gewalt neigt. Aber die Entscheidung, eine Gewalttat zu begehen, wird immer noch von der Person selbst getroffen.“

Der Dessauer Kellermord

erschienen am 6. Dezember 2022 in der MZ
von Benjamin Telm

Sie waren in einem ähnlichen Alter, besuchten beide denselben Jugendklub und waren zudem Nachbarn – in der Nacht des 28. Mai 2005 wurde er ihr Mörder. Stefanie S. ertappte ihren Nachbarn Andy R. dabei, wir er ein Fahrrad aus dem gemeinsamen Fahrradkeller stehlen wollte. Anstatt die Flucht zu ergreifen, brachte er sie für immer zum Schweigen.

Von außen betrachtet eine unverhältnismäßige Tat. So abstrus, verworren und unnachvollziehbar sie scheint, für den Täter ergab sein Handeln in diesem Moment wahrscheinlich Sinn. Denn in den seltensten Fällen handeln Täter aus reiner Mordlust oder aus Affekt. Für das Gericht spielte später in der Verhandlung die Motivation eine tragende Rolle.

Juristin Kimberly Erlebach (r.) erzählt Autor Benjamin Telm in welchen Situationen Menschen zu Mördern werden können.
(Foto: Andreas Stedtler)

Generell ist es eine interessante kriminologische Frage: Schafft die Situation den Mörder oder liegt das Potenzial zum Mord schon in ihm? Die MZ hat hat mit einer Expertin des Strafrechts und der Kriminologie über Mordgründe gesprochen – und darüber wie man zum Mörder „wird“. Zudem kommt eine ehemalige Freundin des Mordopfers zu Wort. Wie erlebte sie die Zeit nach dem Mord und wie geht sie heute damit um? Es geht um den Dessauer Kellermord.

Falsche Zeit, falscher Ort

Die 17-jährige Stefanie S. kam in besagter Nacht zwischen 24 und 1 Uhr von einem Jugendclub nach Hause. Die Elftklässlerin wollte nur noch ihr Fahrrad in den Keller bringen und dann den Freitagabend zu Hause ausklingen lassen. Als sie den Keller betrat, ertappte sie jedoch Andy dabei, wie er ein Fahrrad stehlen wollte. Wahrscheinlich stellte Stefanie ihn zur Rede. Nicht nach Reden zumute schlug er ihr mehrfach ins Gesicht, bis sie bewusstlos war. Daraufhin entfernte er den Spanngurt von einem Fahrradkorb, um die Schülerin zu erdrosseln, und entkleidete sie teilweise. Schließlich ergriff er die Flucht.

Falsche Fährte

Nach dem Fund der Leiche leitete die Polizei die Ermittlungen ein. Die Nachbarn des Hauses wurden befragt, nach Hinweisen gesucht. Niemand hatte etwas mitbekommen. Und Spuren konnten zunächst auch keine festgestellt werden, genau das war jedoch verdächtig. Es gab keine Einbruchsspuren – weder an der Eingangs- noch an der Kellertür. Die Haustür mit Sicherheitsschloss wurde nachts abgeschlossen. Und die Stahl-Kellertür fiel alleine ins Schloss, wenn sie nicht offengehalten wurde. 100 Meter von ihrer Wohnung entfernt wurde Stefanies Rucksack auf einem Stromkasten gefunden. Er wirkte drapiert und lag zudem nicht auf dem Nachhauseweg des Opfers. Die Ermittler vermuteten, dass es so aussehen sollte, als wäre sie ihrem Mörder nicht erst im Haus begegnet. So geriet schließlich der 21-jährige gelernte Koch Andy in den Fokus – ein Nachbar, der zu dem Zeitpunkt eine Bewährungsstrafe verbüßte.

Verhaftung und Prozess

Der Tatort: Ein Fahrradkeller in Dessau
(Foto: Benjamin Telm)

Andy kam in Untersuchungshaft. Behauptete, dass er sehr betrunken und auf Drogen gewesen war, und sich daher nicht an den Abend erinnern konnte. Verschiedene gesicherte DNA-Spuren führten zunächst zu keinem Ergebnis. Bis schließlich ein Fingerabdruck von Andy am Tatort und – mittels Luminol-Test – Blutspuren des Opfers in seiner Wohnung gefunden wurden.

Darauf hin gestand er, zwar in dem Keller gewesen zu sein, jedoch nichts mit dem Tod Stefanies zu tun hätte. Sie sei bereits tot gewesen, als er sie fand. Die Leiche habe er lediglich entkleidet, damit man ihn nicht fälschlich verdächtigte. Seines vermeintlichen Zustands wegen wäre er feinmotorisch gar nicht in der Lage gewesen, den Spanngurt zu entfernen, behauptete Andy zudem.

Im vorläufigen Gutachten wurde er zunächst als vermindert schuldfähig eingestuft. Mit einer Demonstration vor Gericht konnte jedoch bewiesen werden, dass es keiner größeren feinmotorischen Fähigkeiten bedarf, einen solchen Spanngurt zu entfernen. Ein möglicher Rausch war also kein Hindernis. Außerdem bestätigten Beamte, dass er bei der Inhaftierung nicht sonderlich auffällig war. Andy hielt an seiner Version fest. Während des gesamten Prozesses war er nicht geständig – im Gegenteil. „Alle sind schuld!“, sagte er während der Urteilsverkündung und warf mit Vorwürfen an die Beteiligten um sich.

Das Gericht war sich jedoch aufgrund der Summe der Indizien und Beweise – unter anderem dem Fingerabdruck, dem Blut in der Wohnung und dem Spanngurttest – sicher, dass Andy der Täter sein muss. Er habe Stefanie bewusst ermordet, um den missglückten Fahrraddiebstahl zu verdecken und um einer drohenden Freiheitsstrafe, insbesondere wegen seiner Bewährung, zu entgehen.

Gefängnis im Blick

Andy wollte laut Gericht den versuchten Diebstahl mit einem Mord vertuschen. Eine Tat, die dem Laien so unverhältnismäßig wie kaltblütig vorkommen mag. Für Experten des Strafrechts und der Kriminologie sei dies allerdings ein sehr häufiger Grund für Mord, sagt Kimberly Erlebach, Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin an der juristischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. „Wegen der Aussetzung der Bewährungsstrafe ins Gefängnis zu müssen, war für Andy wahrscheinlich erstmal das größere Übel in diesem Moment.“ Aus kriminologischer Sicht schrecke die Androhung von Strafe selten ab. Viel relevanter sei das subjektive Entdeckungsrisiko. Die eigene Einschätzung der Wahrscheinlichkeit entdeckt zu werden. „Würden Täter schon davon ausgehen, bei der Tat erwischt zu werden, dann begehen sie die Tat erst gar nicht“, erklärt Erlebach.

Allerdings ist laut Erlebach bei weitem nicht jeder Mensch in der Lage, einen Mord zu begehen. Ob jemand dazu fähig sei, liege in meistens an den frühen kindlichen Erfahrungen. „Am wichtigsten ist die Sozialisation. Wie ist ein Mensch aufgewachsen? Hat er in seiner frühen Kindheit Gewalterfahrungen gemacht?“ Lernt ein Kind zum Beispiel, Gewalt als angemessenes Mittel zu nutzen, könne sich das im Lebenslauf durchziehen, indem die Person eher zur Gewalt neige. Freundeskreise, da sie meist auf Gemeinsamkeiten fußten, könnten Neigungen fördern. Die Umwelteinflüsse, sei es die momentane Situation oder eben frühkindliche Erfahrungen, spielten immer eine wichtige Rolle. Dies gelte auch in Hinblick auf Alkoholeinfluss und der Psyche. „Aber die Entscheidung, eine Gewalttat zu begehen, wird immer noch von der Person selbst getroffen“, sagt die Expertin. Die genannten Faktoren begünstigen lediglich die Entscheidung zur Gewalttat und sind niemals ein alleiniger Grund.

Die Hinterbliebenen

Nach dem Mord war der Schock und die Anteilnahme der Schüler und Lehrer an Stefanies Gymnasium groß. Für sie begann ein langwieriger Prozess der Verarbeitung. „Das war schwer für alle. Ein krasser Einschnitt, wenn man in die Klasse kommt und da fehlt jemand“, sagt eine damalige Klassenkameradin, die anonym bleiben möchte. Nach der Tat war in den darauffolgenden Wochen nicht an Unterricht zu denken. „Am Montag in der Schule war es sehr beklemmend, keiner wusste, was er sagen sollte. Die Lehrer hatte es genauso mitgenommen.“ Es gab eine gemeinsame Trauerfeier mit Chor. Um Schüler und Lehrer bei der Verarbeitung zu unterstützen, habe das Gymnasium für mehrere Monate Gespräche und psychologische Betreuung angeboten, erzählt sie. Als Klasse hätten sie Stefanie zu Ehren ein Mosaik im Kunstunterricht gestaltet – alle zusammen, auch die Lehrerin.
Und über allem habe die Frage nach dem Warum geschwebt. Warum hat niemand etwas mitbekommen? Warum musste das passieren? „Drüber haben wir uns im Freundeskreis viel unterhalten“, erinnert sich die ehemalige Klassenkameradin. An Stefanies Grab war die Anteilnahme noch lange zu sehen. Viele ihrer Freunde hinterließen Andenken. Lehrer von Stephanie und auch die Schulleitung wollen sich heute nicht mehr zu dem Mord äußern. „Das sei lange her“, heißt es.

In der Kirche zünde ihre Freundin noch heute jedes Mal eine Kerze für sie an. „Jetzt leben wir schon doppelt so lange wie sie. Wenn ich daran denke, was sie alles nicht erlebt – Kinder, Studium – dann nimmt mich das noch immer mit.“ Die frühere Freundin sagt: „Bei so einer Sinnlosigkeit heilt die Zeit auch keine Wunde.“