Verbrechen in
Mitteldeutschland

Ein Podcast der Mitteldeutschen Zeitung

Folge 6: Der IS-Kämpfer aus Zeitz

Er arbeitete als Schweißer im Braunkohletagebau, spielte Fußball im lokalen Verein. Das Leben von Martin L. aus Zeitz verlief ganz normal und unauffällig, wie das vieler junger Männer.
Bis er 2014 nach Syrien ausreiste. Das Ziel: Das vom Islamischen Staat ausgerufene Kalifat. Als hochrangiges Mitglied der IS-Geheimpolizei soll er dort sogar an Hinrichtungen beteiligt gewesen sein. Warum schloss sich der junge Zeitzer der Terrororganisation an?

MZ-Volontärin Silvia Kücken hat mit dem Extremismusexperten Thomas Mücke über die Gefahr gesprochen, die von dem religiös-fanatistischen und politischen Extremismus ausgeht. Wir klären unter anderem in dieser Folge, welche Menschen besonders anfällig für die Versprechungen dieser Szenen sind.

Folge 6:
Der IS-Kämpfer aus Zeitz

„Besonders überrascht hat mich bei der Recherche, zu erfahren, wie perfide und berechnend extremistische Szenen wie die islamistische vorgehen, um neue Anhänger zu gewinnen. Gezielt werden Bedürfnisse nach Sinn und Gemeinschaft ausgenutzt.“

Autorin der Folge:
Silvia Kuecken,
Lokalredaktion Zeitz

Experte der Folge:
Thomas Mücke,
Extremismusexperte

„Vom IS sind viele schwere Verbrechen begangen worden und dass im Nachhinein niemand damit was zu tun hatte, stimmt nicht. Nicht alle werden nur Hilfsarbeiten gemacht haben. Und auch diejenigen, die tatsächlich logistische Aufgaben durchgeführt haben, haben trotzdem ein Terrorregime unterstützt. Dafür müssen sie die Verantwortung tragen.“

Im Dienst des Terrorstaates

erschienen am 16. Januar 2023 in der MZ
von Silvia Kücken

Er arbeitete als Schweißer im Braunkohletagebau, spielte Fußball im Verein. Das Leben von Martin L. aus Zeitz verlief unauffällig und geregelt, wie das vieler junger Männer in der Region. Doch dann gab es einen Bruch in seinem Leben – und er endete als mutmaßlicher IS-Kämpfer in Syrien.

Aber der Reihe nach: Mit Anfang 20 konvertiert der heute 32-Jährige zum Islam. Häufige Besuche in einer Leipziger Moschee führen ihn dann in die Fänge des Salafismus, einer radikalen Glaubensströmung, die von ihren Anhängern eine besonders strenge Befolgung des Korans  fordert. L. verändert sich, immer tiefer driftet er in die Szene ab, bis er in das Fadenkreuz der Terrororganisation des Islamischen Staats (IS) gerät.

Mit professionellen Videos in den sozialen Medien hat der Islamische Staat tausende Europäer rekrutiert.
(Foto: Andreas Stedtler)

L. verändert sich, immer tiefer driftet er in die Szene ab, bis er in das Fadenkreuz der Terrororganisation des Islamischen Staats (IS) gerät. Der IS rekrutiert damals tausende Europäer als Anhänger und Kämpfer. Martin L. ist einer von ihnen. 2014 reist er über Istanbul nach Syrien aus. Zusammen mit zwei Ehefrauen und einem Sohn. Das Ziel: Das vom Islamischen Staat ausgerufene Kalifat. Als hochrangiges Mitglied der IS-Geheimpolizei soll er dort an Hinrichtungen und Folterungen beteiligt gewesen sein. Der Fall sorgt für Aufsehen, in verschiedenen Medien ist von ihm als berüchtigtem „Schlächter“ die Rede.  Am Ende kommt er ins Gefängnis.

Aber warum schließt sich der junge Zeitzer überhaupt den Terroristen an? Das ist zwar ungewöhnlich, aber kein Einzelfall, wie der Extremismusexperte Thomas Mücke erklärt. „Theoretisch ist jeder junge Mensch anfällig für die Versprechungen von Extremisten“, sagt der Geschäftsführer des Violence Prevention Network. Die Organisation sitzt in Berlin und unterhält deutschlandweit Beratungsstellen. Sie klärt über die Gefahren von Extremismus auf und unterstützt Menschen beim Ausstieg aus solchen Szenen.  „Besonders anfällig sind diejenigen, die  das Gefühl haben, sie werden nicht wahrgenommen.

Sie haben oft schwierige Brüche in ihrem Leben und suchen Halt und Geborgenheit“, sagt Mücke. Für diese Personen haben Extremisten einen Blick und versuchen sie durch emotionale Bedürfnisse anzusprechen.“ Diese Bedürfnisse könnten Wertschätzung,  die Sinnfrage nach Identität, aber auch Gemeinschaftserlebnisse sein.

Entfremdung von der Familie

Und das ist für viele erst der Anfang des Abdriftens in eine andere Welt: „Nach und nach versuchen die Extremisten diese jungen Menschen an sich zu binden und sie zu entfremden von der Gesellschaft und dem Umfeld“, ergänzt der Experte. Und das funktioniert laut  Mücke folgendermaßen: „Am Anfang wird gesagt: ‚Islam und Demokratie gehören nicht zusammen‘“. Damit werde der junge Mensch sehr schnell von der Gesellschaft entfremdet. Die jungen Menschen würden auch aufgefordert, die eigene Familie vom wahren Islam zu überzeugen. Die meisten Eltern lehnten dies natürlich ab, so Mücke. Damit entfremde sich der junge Mensch auch von der eigenen Familie, weil die Angehörigen dann zu den sogenannten Ungläubigen gehörten. Und als letzten Schritt verlangten die Extremisten, dass alle bisherigen sozialen Kontakte abgebrochen werden müssen. „So entwickeln sich die jungen Menschen nur noch in einem geschlossenen Gebäude, indem sie gar keine anderen Sichtweisen mehr erfahren, und die Extremisten können sie immer stärker für ihre Zwecke instrumentalisieren“, sagt Mücke.

So könnte es auch bei Martin L. gewesen sein. Der gelernte Schweißer wächst behütet in einem Dorf bei Zeitz auf, hat Freunde und spielt in Fußballvereinen. Aber irgendwie finden die Extremisten auch da einen Zugang: „Die Extremisten merken schnell, ob die Person unsicher oder  leicht beeinflussbar ist. Gerade für unsichere Menschen ist natürlich das Angebot eines absoluten Wahrheitsanspruches attraktiv“, erklärt Mücke.

Offenbar auch für Martin L. Im Nachhinein kann man seinen Radikalisierungsweg anhand verschiedener Medienberichte wie von der MZ rekonstruieren. Er verändert sich nicht nur optisch, sondern auch in seinem Verhalten. Während sein Bart wild sprießt, werden die Regeln immer strenger, die er sich selbst auferlegt. Nach dem Fußballspiel will er auf einmal keine Bratwurst mehr essen. Seiner damaligen Freundin verbietet er den Kellnerjob in einem Zeitzer Eiscafé. Er bittet den damaligen Zeitzer Oberbürgermeister Volkmar Kunze (FDP) um einen Gebetsraum für Muslime. Die Bitte wird abgelehnt, bei Martin L. hätte man gleich ein komisches Gefühl gehabt, so Kunze. Am deutlichsten zeigt sich die  Wandlung von Martin  L. auf seinem Facebookprofil. Neben Fotos im traditionellen Gewand postet er beispielsweise im Jahr 2012: „Wir schauen in den Lauf der Waffe und sehen das Paradies.“

 Nur wenige Jahre später kommt Martin L. dem Lauf einer Waffe ganz nah. Um „den wahren Islam zu leben“, reist er im November 2014 in das vom Islamischen Staat eroberte Gebiet in Syrien. Das Land ist vom Bürgerkrieg zerstört. Seiner Familie werden vom IS  Wohnungen in Rakka gestellt, der inoffiziellen Hauptstadt des IS. Das Leben dort ist jedoch alles andere als paradiesisch: Während weiterhin Bomben in Trümmerlandschaften hageln, verfolgt das Regime erbarmungslos Ungläubige. Tausende kommen ums Leben oder werden versklavt. Im Islamischen Staat herrscht auch im Inneren Terror: Unaufhörlich wird nach Abweichlern in den eigenen Reihen gefahndet, die dann brutal gezüchtigt oder hingerichtet werden.

Auch Martin L. soll Teil dieses Unterdrückungssystems gewesen sein. Laut Zeugenaussagen und Sicherheitsdienstermittlungen war er ein hochrangiges Mitglied der IS-Geheimpolizei und in dieser Position an Hinrichtungen und Folterungen beteiligt. Vorwürfe, die er bis heute abstreitet. In TV-Interviews aus dem Gefängnis heraus behauptet er immer wieder, nur ein kleines Licht gewesen zu sein. Teil des Geheimdienstes sei er zwar gewesen, habe sich da aber nur um die Technik gekümmert. Er habe niemandem den Kopf abgeschlagen, beteuert er. Allerdings gibt es auch einen Zeugen, der ihn auf einem Hinrichtungsvideo erkannt haben will. Ob das tatsächlich stimmt, konnten die Behörden bislang nicht ermitteln.

Mit seinen Aussagen, er habe nichts Schlimmes gemacht, ist Martin L.  nicht allein. Ähnliche Aussagen kommen auch von anderen IS-Mitgliedern, die nach ihren Angaben nur Logistiker waren oder von Gräueltaten nichts mitbekommen haben wollen. Aber kann man solchen Behauptungen Glauben schenken?

Nicht unbedingt, sagt Extremismusexperte Thomas Mücken. „Vom IS sind  viele schwere Verbrechen begangen worden und  dass im Nachhinein niemand damit was zu tun hatte, stimmt nicht. Nicht alle werden nur Hilfsarbeiten gemacht haben. Und auch diejenigen, die tatsächlich logistische Aufgaben durchgeführt haben, haben trotzdem ein Terrorregime unterstützt. Dafür müssen sie die Verantwortung tragen.“

Was von all dem wahr ist, müssen noch Gerichte feststellen. Aktuell befindet sich Martin L. immer noch in einem Gefängnis in Nordsyrien, nachdem er von der Befreiungsmiliz  Anfang 2019 festgenommen wurde. Mehrere Reporterteams haben ihn dort schon besucht und interviewt. In den Videoaufnahmen ist ein abgemagerter Mann zu sehen, dunkle Schatten liegen unter seinen Augen. Er sagt, er habe einen großen Fehler gemacht und fleht darum, nach Deutschland zurückkehren zu dürfen. Das Land, das er vor gut acht Jahren für das vermeintliche Paradies verlassen hat.

Gefährliche Rückkehrer?

Aber dieses Land zögert. Sollte Deutschland  die aktuell noch im Ausland inhaftierten IS-Kämpfer zurücknehmen? Für Mücke gibt es nur eine Antwort: „Es sind deutsche Staatsbürger und wir haben die Verantwortung für diese Menschen und dürfen diese Herausforderung nicht denjenigen Ländern überlassen, die so viel Leid erfahren haben.“

Doch würde es überhaupt gelingen, einen Menschen wie Martin L. wieder in die deutsche Gesellschaft zu integrieren? Falls das gelingen soll, wird es nicht einfach, sagen Experten wie Thomas Mücke.  Menschen wie Martin L., die sich so früh dem IS angeschlossen haben und erst nach der militärischen Zerschlagung des IS aufgaben, haben womöglich auch eine Ausbildung an der Waffe erhalten und schwere Verbrechen begangen. Bei einer Rückkehr würde auf Martin L. also erstmal der Gang vor Gericht warten. Dort müsste dann geklärt werden, welche Taten man ihm wirklich nachweisen kann. Das war in anderen Fällen von bereits verurteilten IS-Kämpfern  äußerst schwierig, da es oft wenig verwertbare Beweise gibt. Unabhängig davon, droht Martin L. Haft in der Heimat. Auch in Deutschland verurteilte IS-Mitglieder, die nur für die Mitgliedschaft in der Terrorvereinigung belangt wurden, erhielten Haftstrafen von bis zu zehn Jahren.