Verbrechen in
Mitteldeutschland

Ein Podcast der Mitteldeutschen Zeitung

Folge 5: Die Gemeinschaftstötung von Bernburg

Vier Menschen quälen im Juni 2018 eine Frau an der Hohen Straße in Bernburg scheinbar grundlos zu Tode. Auslöser der Gewaltorgie ist eine fehlende Geldbörse mit 20 Euro Inhalt. Die Haupttäter sind der zur Tatzeit gerade einmal 16-jährige Pascal W. und seine Mutter Michaela W..

MZ-Volontär Sebastian Möbius hat die Abgründe dieser Tat zusammen mit dem ehemaligen Lokalredakteur Andreas Braun und dem Bremer Kriminalisten und Bestseller-Autor Axel Petermann unter die Lupe genommen. Wie der anfänglich friedliche Abend derart eskalierte und warum Michaela W. einen Fernsehsender wissentlich belogen hat, klären wir in dieser Folge.

Folge 5:
Die Gemeinschaftstötung von Bernburg

„Ich habe selbst von der Tat damals aus den Medien erfahren und bis heute beschäftigt es die Einwohner. Als mir eine Bernburgerin im Zuge der Recherche sagte, dass sie mit der Mutter Michaela W. kurz nach der Tat geschrieben und im Nachhinein gesehen Kontakt zu einer Mörderin hatte, habe ich schon ein mulmiges Gefühl bekommen. Das Verbrechen in seiner Gesamtheit, mit all der Brutalität, schockiert mich sehr, auch wenn ich über den Fall nicht aktiv berichtet habe.“

Autor der Folge:
Sebastian Möbius,
Lokalredaktion Bernburg

Experte der Folge:
Axel Petermann,
Kriminalist und Bestseller-Autor

„Man muss natürlich hinterfragen, warum tut sie das? Warum belastet sie den Sohn? Spontan fällt mir da ein, dass sie um ihre Tatbeteiligung weiß, aber nicht bestraft werden möchte. Und deswegen macht sie Schuldverlagerung. Das ist etwas, das ich schon häufiger beobachtet habe. Ich gebe dem Opfer Mitschuld und sage, dass es nicht zur Tat gekommen wäre, wenn es sich nicht so verhalten hätte. Andererseits ist es ungewöhnlich, dass sie ihren Sohn belastet und nicht die anderen beiden Mittäter. Möglicherweise hat sie das getan, weil sie Angst vor ihrem Sohn hat und von ihm geschlagen und malträtiert wurde und das soll in Zukunft nicht mehr geschehen.“

Die Abgründe einer Nacht

erschienen am 10. Januar 2023 in der MZ
von Sebastian Möbius

Auf den ersten Blick gleicht die Hohe Straße in Bernburg vielen anderen Straßen hier in der Bergstadt im Salzlandkreis. Graffiti zieren die Häuserwände, der gepflasterte Gehweg ist meist wie leer gefegt. Nur ab und zu verschlägt es Bahnreisende auf ihrem Weg in die Innenstadt hierher. Was sie dabei wohl nicht ahnen: Eines unterscheidet die Hohe Straße von den anderen Orten in der Stadt. Sie ist Tatort eines der schrecklichsten Verbrechen in der Geschichte Sachsen-Anhalts.

Vor viereinhalb Jahren quälen hier in einer Wohnung, nur einen Steinwurf vom Polizeirevier entfernt, vier Menschen eine Frau zu Tode. Haupttäter sind der damals 16-jährige Pascal W. und seine 34-jährige Mutter Michaela W.. Bis heute nagt eine Frage an Einwohnern, Zeitzeugen und Kriminalisten: Was bringt einen Minderjährigen dazu, einen Menschen auf brutale Weise zu quälen?

Der ehemalige Lokalredakteur Andreas Braun, hier am damaligen Tatort in der Hohen Straße in Bernburg, hat den Fall journalistisch begleitet. (Foto: Andreas Stedtler)

Zum Sterben zurückgelassen

Am frühen Morgen des 11. Juni 2018, nach mehreren Stunden der Qual, legt einer ihrer Peiniger das Opfer, die 39-jährige Bianca F., in den Hauseingang einer Nachbarwohnung. Vermutlich lässt er sie dort zum Sterben zurück. Ein Passant entdeckt die schwer verletzte Frau. Einen Tag später stirbt sie in einer Spezialklinik in Halle an ihren Kopfverletzungen.

Bis zum 12. April 2019 finden daraufhin mehrere Verhandlungen am Landgericht Magdeburg zu der Tat statt. Pascal W. wird wegen gefährlicher Körperverletzung und versuchten Totschlags zu achteinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Seine Mutter Michaela W. muss siebeneinhalb Jahre hinter Gitter, ihre Komplizen Kevin G. und Felix M. sechs und vier Jahre. Aufklären kann die Polizei das Verbrechen damals mithilfe eines Videos von der Tat auf Facebook. Die Täter laden es selbst hoch – und führen die Beamten so erst auf ihre Spur.

Die Gewalt selbst beginnt bereits am Nachmittag vor der Horrornacht. Der 16-jährige Pascal W. ist zu diesem Zeitpunkt schon seit mehreren Jahren alkoholabhängig, wie er später vor Gericht über seinen Verteidiger aussagen lässt. Auf der Suche nach Alkohol klingelt er bei einem Bekannten seiner Mutter. Doch der Mann hat keinen Alkohol zu Hause. Stattdessen verlangt Pascal W. Geld, das will der Bekannte nicht freiwillig herausrücken. „Er hat den Mann daraufhin krankenhausreif geschlagen. Zum Glück konnte er am Abend aus dem Bernburger Klinikum wieder entlassen werden“, berichtet Andreas Braun, damals MZ-Lokalredakteur und Gerichtsreporter. Braun begleitet den Prozess von Anfang bis Ende und schreibt etliche Artikel über das Verbrechen. „Die Tat war in ihrer Brutalität das Schlimmste, was ich erlebt habe“, sagt er heute.

Streit um 20 Euro

Am Abend des Sommertages vor viereinhalb Jahren sitzen in der Wohnung von Bianca F. alle fünf Beteiligten zusammen. Sie trinken Alkohol, nehmen auch Drogen. Plötzlich herrscht Aufregung, denn Michaela W. vermisst ihr Portemonnaie mit 20 Euro. Die 34-Jährige beschuldigt ihre Freundin Bianca F., das Geld gestohlen zu haben. Laut Anwohnern sollen die beiden Frauen ein Liebespaar gewesen sein. Es kommt zum Streit, F. verschwindet kurz darauf im Badezimmer. Michaela W. und ihr Sohn folgen ihr – Pascal W. ist mit einer Whiskeyflasche bewaffnet. Im Badezimmer bricht sich die Gewalt Bahn. Die Mutter schlägt Bianca F. mehrmals, ehe das Opfer von Pascal W. mit der Whiskyflasche attackiert wird. Er schlägt ihr damit so heftig auf den Kopf, dass die Flasche in Scherben springt. Für Bianca F. ist es erst der Auftakt eines langen Martyriums.

Auch für den Bremer Kriminalisten und Fallanalytiker Axel Petermann sticht die Brutalität dieses Falls heraus. Für die MZ hat er das Geschehen eingeordnet. Der 70-Jährige hat schon mehrere Bestseller geschrieben, ist auf die Analyse von Kriminalfällen spezialisiert. Für ihn ist klar, dass Pascal W. nur ein Ziel verfolgte: „Pascal wollte mit seinem Auftreten Macht demonstrieren.“ Er habe letztlich entschieden, was mit dem Opfer geschieht. Laut Petermann wollte sich der Jugendliche so profilieren, die restliche Gruppe anstacheln. „Ziel war es, zu zeigen, wie toll er ist und dass die anderen doch mitmachen sollen.“

Auf die ersten Schläge mit Fäusten und Flasche folgen weitere Misshandlungen. Mit einem Rasierer scheren die Täter Bianca F. den Kopf kahl. Anschließend drücken sie ihr Gesicht unter Wasser, bis sie kurz vor dem Ertrinken ist. Im Laufe des Abends sticht man ihr ein Messer in den Oberschenkel und zertrümmert ihr mit einem Fleischklopfer sämtliche Finger. Was dabei in Köpfen der Täter vorgeht, bleibt unklar. Pascal W. schweigt vor Gericht zu der gesamten Tat. „Eine Gutachterin erklärte vor Gericht, dass die Intention von Pascal W. gewesen sei, einmal zu testen, wie es ist, einem Menschen das Leben zu nehmen“, sagt Andreas Braun.

Dass die Täter, insbesondere Pascal W., kaum Reuegefühle zeigen, wird klar, als kurze Zeit nach der Tat das Video des Verbrechens bei Facebook auftaucht. Auf diesem ist zu sehen, wie Bianca F. misshandelt wird. Wollte die Gruppe mit ihrer Tat prahlen? Ungewiss. Wenig später ist das Video wieder gelöscht. Zuvor wird jedoch die Polizei darauf aufmerksam, schnell kann sie die Gruppe identifizieren. Daraufhin nehmen die Beamten Pascal W., Felix M. und Kevin G. fest.

Mutter beschuldigt ihren Sohn

Nach der Festnahme ihres Sohnes wendet sich die Mutter überraschend an das Team eines Fernsehsenders. In einem Interview behauptet sie aufgelöst und unter Tränen, dass sie nicht an der Tat beteiligt und ihr Sohn für alles verantwortlich sei. „Ich habe Angst vor ihm“, sagt sie einem Reporter. Schon jahrelang sei ihr Sohn alkoholabhängig und schrecke vor nichts zurück, um an das Rauschmittel zu kommen.

„Da scheint ein sehr großes Gewaltpotenzial bei Pascal W. vorhanden zu sein. Und er hat es, ohne groß darüber nachzudenken, auch eingesetzt“, sagt Profiler Petermann. Zudem erklärt sich der Kriminalist das Verhalten von Michaela W. wie folgt: „Das, was ich bei ihr erkenne, ist die Schuldverlagerung. Sie weiß um ihre Verantwortung bei der Tat und schiebt es bewusst auf ihren Sohn, da sie auch offensichtlich Angst vor ihm hat. Sie hätte es auch auf die zwei anderen Mittäter schieben können.“ Selbst den Profiler überrascht, dass die Mutter die Schuld auf ihren eigenen Sohn abwälzt. Wenige Tage nach der Ausstrahlung des Interviews wird auch sie festgenommen. Laut Aussage der Beamten ist sie ebenfalls eine Haupttäterin.

Obwohl er damals nach dem Jugendstrafrecht verurteilt wird, erhält Pascal W. die höchste Gefängnisstrafe aller Angeklagten. Das Jugendstrafrecht sieht in der Regel eher milde Strafen wie Sozialstunden vor. Doch vor Gericht schweigt W., zeigt keine Anzeichen von Reue. Anders sieht das bei Felix G. und Kevin M. aus. „Beide haben vor Gericht Reue gezeigt und gesagt, dass sie schockiert über ihr eigenes Handeln sind“, erinnert sich Andreas Braun. Bei Felix M. ordnet das Gericht außerdem eine Therapie an, nachdem er in der Untersuchungshaft versucht, sich umzubringen.

Chat mit einer Mörderin

Doch wie konnte die Situation soweit eskalieren? „Es ist eine Anordnung vieler unglücklicher Umstände gewesen“, sagt Profiler Petermann. „Stark alkoholisierte Personen sitzen zusammen, dann verschwindet eine Geldbörse.“ Laut Petermann schreckt der 16-jährige Pascal W. anschließend nicht mal vor Totschlag zurück, um seine Macht zu demonstrieren. Der Kriminalist sieht dabei auch den Ansporn durch die Gruppe als treibende Kraft. „Pascal W. hat den Tod von Bianca F. in Kauf genommen – und er hat sich sehr sicher darüber gefreut, es vor Publikum tun zu dürfen.“

Noch heute beschäftigt der Fall die Einwohner der Saalestadt. „Ich habe von der Tat auf Facebook gelesen und daraufhin die Mutter über den Chat kontaktiert“, erinnert sich eine Bernburgerin. Sie will anonym bleiben. Sie habe wissen wollen, was passiert sei. Antwort hat sie nicht bekommen. „Im Nachhinein ist mir klar geworden, dass ich mit einer Mörderin geschrieben habe“, sagt sie.
Die vier Täter sitzen noch heute ihre Haftstrafen ab. Das teilt Frank Baumgarten, Sprecher der Staatsanwaltschaft Magdeburg, der MZ mit. Axel Petermann sieht für die Zukunft von Pascal W. nichts Gutes – zumindest, wenn er seinen Pflichten nicht nachkommt: „Wenn er seine Therapien nicht macht, wird er höchstwahrscheinlich erneut straffällig. Und dann sicherlich schlimmer als beim ersten Mal.“